Wiederaufbau Atitlan

Am 5. Oktober 2005 verwüstete Hurrikan Stan ganze Landstriche in Guatemala. Am See Atitlan wurden verheerende Schlammlawinen an den Hängen der Vulkane ausgelöst. In Tzanchaj, einem Stadtteil der Gemeinde Santiago Atitlan, verloren ungefähr sechzig Familien ihre Häuser. Nachdem ich zuvor als Sprachlehrerin in der Gemeinde gearbeitet hatte, möchte ich nun versuchen, Hilfe und Wiederaufbau mitzuorganisieren. Dies stelle ich in diesem Tagebuch dar.

19.11.05

Mein Leben in der Gastfamilie und Schule

Nur sehr selten aß ich gemeinsam mit der Familie. Irgendwann erklärten sie mir, dass sie sich sehr schämen, gemeinsam an einem grossen Topf auf dem Boden zu sitzen und mit den Fingern zu essen. So bekam ich mein Essen häufig getrennt, und sie gaben sich stets viel Mühe damit.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie sie mir zum ersten Mal Fisch gaben, ein sehr köstlicher Fisch aus dem Atitlan-See. Für mich war es das erste Mal, dass ich einen ganzen Fisch aß, -ich bin vegetarisch aufgewachsen. Die Kinder der Familie mit zahlreichen Freunden und Kousins saßen um mich herum und schauten mir gebannt zu. Ich fing an zu essen und gab ihnen nach einer Weile die Kugelschreiber, die ich dabei hatte und etwas Papier, um ihre Aufmerksamkeit etwas zu zerstreuen. Ich war mit dem Essen fertig oder meint das zumindestens, als die fünfjaehrige Tochter sich voller Genuss den zurückgelassenen Fischkopf nahm und in den Mund steckte.

Am Montagmorgen nahm mich Nino mit in die Schule, zunächst zum Direktor. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen oder was von mir erwartet würde. Gerne hätte ich mir erst einmal ein bisschen von der Schule oder dem Unterricht angeschaut. Doch ich wurde gleich zu einer Klasse gebracht, in der an dem Tag kein Lehrer war und sollte dort die Zeit bis zur Schulpause verbringen. So stand ich vor dem fünften Schuljahr, über 35 Kinder zwischen elf und sechzehn Jahren schauten mich erwartungsvoll an. Ich versuchte, ein bisschen Englisch beizubringen, was für beide Seiten wahrscheinlich sehr verwirrend war. Mein Spanisch war noch lückenhaft, und die Kinder unterhielten sich untereinander auf Tsutujil.

Es hat mich sehr lange gekostet, bis ich verstanden habe, dass die Schule einen ganz anderen Stellenwert hat als zum Beispiel in Deutschland. Im wesentlichen geht es nicht um Leistung oder Effektivität. Für viele Kinder ist es eine große Erleichterung, wenn sie einen halben Tag nicht arbeiten müssen. Wahrscheinlich ist es für sie nicht leicht zu erkennen, wofür man lernt, wo doch die Mütter fast durchweg überhaupt kein Spanisch sprechen, geschweige denn lesen oder schreiben können.

Einzelne Kinder entwickelten trotzdem eine zunehmende Begeisterung und mit der Zeit fingen auch Mädchen an, laut vor der Klasse zu sprechen. Die Schule hat ungefähr 350 Schüler. Die Schulleitung hätte am liebsten gesehen, wenn ich sämtliche Klassenstufen unterrichtet hätte. Dies lehnte ich jedoch ab und beschränkte mich auf Kinder ab ungefähr neun Jahren, die schon über gewisse Spanischkenntnisse verfügen, - auch wenn gerade die ganz Kleinen nach anfänglicher Scheu über meine Anwesenheit am allerbegeistertsten waren.