Wiederaufbau Atitlan

Am 5. Oktober 2005 verwüstete Hurrikan Stan ganze Landstriche in Guatemala. Am See Atitlan wurden verheerende Schlammlawinen an den Hängen der Vulkane ausgelöst. In Tzanchaj, einem Stadtteil der Gemeinde Santiago Atitlan, verloren ungefähr sechzig Familien ihre Häuser. Nachdem ich zuvor als Sprachlehrerin in der Gemeinde gearbeitet hatte, möchte ich nun versuchen, Hilfe und Wiederaufbau mitzuorganisieren. Dies stelle ich in diesem Tagebuch dar.

28.2.09

Grüße aus Guatemala

Hallo, Ihr Lieben,

seit Samstag bin ich in Guatemala und es ist schon so viel passiert,
dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll zu schreiben. Ich wusste
wirklich nicht, was mich erwarten wuerde, wenn ich nach ueber drei
Jahren wieder hierher zurueckkehren wuerde, doch ich habe nicht
erwartet, dass ich mich so schnell wieder so wohl fuehlen wuerde. Es
kommt mir so vor, als sei ich schon seit Monaten oder zumindestens
Wochen wieder hier.

Ich wusste, dass die Gegend hier um den Atitlán-See ganz besonders
schoen ist und trotzdem war ich wieder ueberrascht und fasziniert von
dieser schoenen Umgebung und den wunderbaren Menschen hier. Der See
liegt auf ungefaehr 1500 Metern und ist umgeben von Vulkanen, die
wirklich so kegelförmig aussehen, wie man sie sich vorstellt.

Ich wohne im Moment bei einer Familie im Zentrum von Santiago, einer
kleinen Stadt mit überwiegend indigener Maya-Bevölkerung. Nach meiner
Ankunft machte ich einen Spaziergang zu den etwas entlegeneren
Ortsteilen Panabaj und Tzanchaj. Diese Gegend ist sehr arm und wurde
2005 besonders stark von den Folgen des Hurrikans Stans und einer
Schlammlawine, die von den Hängen des Vulkans runtergekommen ist,
betroffen. Während dieser Katastrophe war ich nicht da, aber davor
wohnte ich bei einer Familie in Tzanchaj. Ich schaute bei dem Hotel
vorbei, in dem der Vater dieser Familie arbeitet und traf ihn dort dann
auch direkt. Es war wirklich schoen, ihn wieder zu sehen und er lud mich
direkt ein, am Dinstag mit seiner Familie und ein paar anderen Leuten an
die Pazifikkueste zu fahren. Als ich damals bei ihnen gewohnt hatten,
hatten wir schon einmal einen aehnlichen Ausflug gemacht. Damals sind
wir mit einem Pickup gefahren und es war das erste Mal gewesen, dass die
Kinder das Meer gesehen haben. Diesmal fuhren wir mit einem Minibus mit
neun Plätzen und waren 13 Erwachsene und 5 Kinder. Wir hatten sehr viel
Spass, sowohl eingeklemmt in dem Bus mit Hitze und schlechten Str.assen,
als auch am Wasser mit hohen starken Wellen. Antoine und Sara aus
Berlin, die im Moment auch hier sind. waren auch dabei.

Es ist so schoen, an die alten Kontakte anzuknuepfen, auch wenn es
meistens ein bisschen dauert, bis ich erkannt werde. Als ich durch
Tzanchaj spazierte sprach ich mit ein paar Leuten an der Strasse, die
sich noch daran erinnerten, dass ich dort gewohnt hatte und in der
Schule unterrichtet habe.
Zu den alten Kontakten sind neue hinzugekommen, die in den letzten
Jahren von Freunden geknüpft wurden.

Vor zwei Tagen haben wir Salvador getroffen, der mir damals sehr
geholfen hatte, nach dem Hurrikan mit ein paar Familien in Tzanchaj zu
arbeiten. Er lebt nun in einem ganz neu gebauten Ortsteil auf der
anderen Seite des Dorfes. Nach sehr langer Zeit in Notunterkuenften sind
dort nun einige Familien umgesiedelt worden und es wird weiter viel
gebaut. Dort entstehen nun die Doerfer Chukmuk eins bis Chukmuk vier.
Mal sehen, ob es irgendwann noch mehr werden. Salvadors Familie lebt von
Webarbeiten und im Moment ist die Auftragslage sehr schlecht, so dass
die Webstuehle unbenutzt sind und Salvador als Tageloehner auf den
Plantagen arbeiten geht.

Heute sind Antoine und ich zu der Kaffeekooperative gegangen, mit denen
wir zusammenarbeiten und von denen wir im letzten Jahr eine halbe Tonne
Kaffee importiert haben. Die Ernte neigt sich nun langsam dem Ende zu.
Dieses Jahr möchten wir mehr Kaffee abnehmen. Wir unterhielten uns mit
dem Vorstand der Kooperative und tauschten uns ueber unsere Aktivitaeten
aus. Dabei stellten wir fest, dass wir in vielen Hinsichten ganz
aehnliche Probleme haben, auch wenn der Kaffeepreis, den wir in
Deutschland fuer diesen Kaffee nehmen natuerlich erst einmal eine
ziemliche Kluft schafft. Wir haben versucht zu erklären, woher dieser
große Preisunterschied kommt, so dass der Kaffee zu diesem Preis kommt,
ohne dass sich jemand daran bereichert. Wir haben eine Tuete mit Kaffee
mitgebracht, wie wir ihn in Deutschland verkaufen. Sie reichten ihn
weiter und rochen alle daran und waren fasziniert davon. Mindestens
genauso fasziniert waren wir von dem Berg von Säcken mit Kaffee, die sie
schon fuer uns eingekauft haben. Es war ein sehr motivierendes Treffen.
Ich denke, dass wir sehr gute Partner hier in Guatemala haben und hoffe,
dass wir lange mit ihnen zusammenarbeiten können.

Es gibt noch viel mehr zu erzählen, doch ich bin im Moment immer nur
sehr kurz zwischendurch zu Hause und wenn ich dann nach Hause komme
ziemlich muede.

Ich schicke Euch ganz liebe Gruesse und ein bisschen Waerme und Sonne.

Liebe Gruesse,
Eure Annkathrin

21.12.05

Weihnachten 2005. Zusammenfassung - Zwischenbericht

Seit der ersten Versammlung der betroffenen Familien am 5.11. sind nun eineinhalb Monate vergangen.

Mittlerweile haben sich hier vor Ort drei Hauptziele herauskristallisiert:
1. die Gründung einer in Guatemala rechtlich anerkannten Associacion.
2. die Wiedererlangung einer Arbeit, möglichst zu gerechten Konditionen
3. stückweise Wiedererlangung verlorener Gegenstände.


Es erscheint sehr wichtig, dass die Menschen eine Organisationsform finden, denn bisher (und das war auch schon mein Eindruck vor der Katastrophe) kämpfte jede Familie allein um ihr tägliches Leben. Es herrscht wenig Kommunikation oder gar Kooperation. Durch die Bildung von Kleingruppen mit jeweils fünf Familien lassen sich erfreuliche Veränderungen erkennen. Jede Gruppe hat ihren Stellvertreter und es ist zu spüren, dass die Kommunikation zunimmt und Verantwortung übernommen wird.

Heute Nachmittag wird eine Versammlung stattfinden, in der ich die ersten Schritte zur Associacionsgruendung in die Wege leiten möchte. Dabei werden wir von FEDEPMA (Federacion de pueblos Maya) unterstützt. FEDEPMA ist ein lokaler Dachverband aus momentan sechs Associacionen. Sie werden in den nächsten Jahren Unterstützung aus Europa erhalten, die vor allem in Fortbildungen investiert werden soll.

Um die Männer dabei zu unterstützen, zu ihrer Feldarbeit zurückzukehren, habe ich am 5.12. die ersten Werkzeuge (Hacke, Axt und Machete) ausgegeben. Ich habe Verträge mit ihnen abgeschlossen, dass sie die Hälfte des Kaufpreises in wöchentlichen Raten von mindestens fünf Quetzales (ca 60 Cent) zurückzahlen müssen. Der Gesamtpreis aller drei Werkzeuge beträgt 113 Quetzales, wobei ich einen Rabatt für die Abnahme größerer Mengen bekommen habe. Nicht alle hatten die Notwendigkeit aller drei Werkzeuge. Insgesamt habe ich an 31 Familien Werkzeuge ausgegeben.

Ich hatte mit Schwierigkeiten bei der Rückzahlung gerechnet, doch bisher wurde stets bezahlt. Manche bezahlten sogar weit über die Vereinbarungen hinaus, und so haben mittlerweile schon vier Familien die Rückzahlung abgeschlossen.
Ich möchte diese gute Zusammenarbeit ermutigen und besonders ihnen den Erwerb weiterer Werkzeuge ermöglichen. So gibt es mindestens drei Maurer, die gerade jetzt in einer Zeit, wo relativ viele Haeuser aufgebaut werden, dringend Werkzeug benötigen.

Mit einer Gruppe von 13 Frauen habe ich ein Perlenprojekt angefangen. Letzten Freitag gab ich ihnen Perlen und forderte sie auf, mir die fertigen Arbeiten vorbei zu bringen. Gestern kamen sie alle und brachten Armbänder, Ketten und Ohrringe, die normalerweise in Santiago zu extrem niedrigen Preisen an die Händler verkauft werden. Ich bezahlte sie für die Arbeiten und habe die Idee, längerfristig eine Möglichkeit zu finden, Arbeiten von hier nach Deutschland zu schicken, um für die Arbeit einen gerechten Preis zahlen zu können.

Die Menschen wollen arbeiten, sagen jedoch, dass es sehr entmutigend ist, wenn man kaum über die Materialkosten hinaus entlohnt wird.
Ganz ungeduldig wurde ich gefragt, wann es mehr Perlen geben würde.
Neben den Perlenarbeiten gibt es einige Männer und Frauen, die an Webstühlen arbeiten. Auch mit ihnen habe ich gesprochen und würde ihnen gerne weitere Arbeitsangebote geben, da sie auf mich einen recht deprimierten Eindruck machen. Es fehlt momentan an Arbeitsaufrägen.

Im Gespräch mit den einzelnen Familien versuche ich immer wieder herauszufinden, was die momentan drängendsten Bedürfnisse sind. Vielen fehlt es an Küchengegenständen, Betten, traditioneller Kleidung für die Frauen,...
Da ich sehr positive Erfahrungen mit der Rückzahlung der Hälfte gemacht habe, möchte ich auch hier auf diese Art und Weise weiter machen.

Einer Familie habe ich am Montag erste Materialien für den Hausbau gekauft. Der Mann kam auf mich zu und schilderte seine Situation. Ein Grundstück hatte er schon - wohl vor der Katastrophe - und auch viele Materialien. Er hatte sich offensichtlich sehr bemüht und auch bei anderen Organisationen versucht, Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten zu bekommen. Vor einer Woche besuchte ich sein altes Haus, das mitten auf der Schneise der Schlammlawine keine Zukunft hat. Ich beauftragte ihn dann, einen Maurer aus der Gruppe der betroffenen Familien aus Tzanchaj zu finden. Gestern ging ich an der Baustelle vorbei. Es sind nun schon Löcher für das Fundament ausgehoben. Der Vater und sein Sohn helfen als Gehilfen bei der Konstruktion.

Ich bin sehr glücklich und dankbar für die grosszügige Unterstützung, die ich aus Deutschland zu spüren bekomme. Die Reaktionen der Menschen hier in Tzanchaj zeigen Dankbarkeit und Motivation. Ich hoffe, bald auch ein paar Fotoeindrücke schicken zu können. Ich möchte die Arbeit so transparent wie möglich machen und freue mich stets über Fragen oder Anregungen.

In diesem Sinne wünsche ich allen eine schöne verbleibende Vorweihnachtszeit!!




15.12.05

Mein Tag im Projekt am 15.12.


Ich kaufte kleine Plastiktütchen, ging in ein Geschäft, benutzte dort die Waage, um die Perlen in kleine Tütchen abzufüllen. Das dauerte ziemlich lange, doch zum Glück half Kristin, eine andere Deutsche, mit. So kam ich irgendwie gar nicht mehr zum Mittagessen, sammelte die Hacken ein, packte sie in meinen Wanderrucksack und machte mich auf den Weg nach Tzanchaj. Es war eine furchtbare Pickupfahrt. Das Auto war schon ziemlich voll. Da ich es eilig hatte und schon zu spät zu meiner Verabredung mit einer der Frauen kommen würde, stellte ich mich hinten auf die dichtgedrängt gefüllte Stossstange. Mit über zwanzig Kilo Material im Rucksack wird man in jeder kleinsten Kurve völlig zur Seite weggezogen.

Da Straßenbau und Asphaltarbeiten im Gang sind, muss man in Panabaj etwas oberhalb der Straße mitten durch die Schneise der Schlammlawine fahren. Das sieht immer noch aus wie eine Steinwüste. Irgendwo war der Weg sehr eng, und es kam uns ein Müllauto aus Koblenz mit der deutschen Aufschrift "Hilfe für Atitlan" entgegen. Aufgrund herabhängender Äste eines Baumes konnte es nicht passieren. So kletterte einer der Männer mit seiner Machete auf den Baum und hackte mehrere laternenpfahldicke Äste ab. (Ich hätte zu gerne ein Foto gemacht). Immerhin nutzte ich diese notgedrungene Pause dazu, den Rucksack in das Innere der Ladefläche zu bugsieren. Irgendwann erreichten wir endlich die Schule im Zentrum von Tzanchaj.

Ich ging zunächst mit Dolores in einen der Klassenräume. Wir sprachen darüber, was es für Möglichkeiten gäbe, ein Portemonnaie herzustellen. Mal sehen, sicherlich können wir etwas Nettes entwerfen, das man dann in Deutschland gebrauchen und verkaufen kann. Ausserdem will ich Faden für die Webarbeiten kaufen, da es hier wohl nur schlechtere Qualität gibt, der nicht farbecht ist und bei der Wäsche ausläuft.

Nach dieser Besprechung waren schon einige Leute da, um Werkzeug entgegen zu nehmen. Die Frauen waren wegen der Perlen schon eine halbe Stunde zu früh gekommen. So etwas ist mir hier wirklich noch nie passiert. Ich gab Werkzeug aus und nahm die beiden Zahlungen entgegen. Es haben mich jetzt wirklich alle gemäß den Vereinbarungen bzw. teilweise sogar weit darüber hinaus bezahlt!!

Den Frauen erklärte ich dann, dass ich ein paar Perlen hätte. Ich wünschte nun, dass sie mir daraus möglichst viele verschiedene Artikel anfertigten. Es war deutlich zu merken, dass ihnen diese Anweisung zunächst gar nicht so recht war. Lieber hätten sie gehört, dass ich von einem bestimmten Design 100 StüAck haben wollte. Ich bin nun sehr gespannt, was geschieht. Insgesamt habe ich fünf halbe Kilo verschiedener Farben gekauft und habe jeder Frau drei kleine Tütchen gegeben. Ob sie wohl untereinander austauschen werden? Ein Experiment....
Ich habe ihnen erzählt, dass ich sie am Dienstag dann ein bisschen bezahlen werde, damit ihnen dieser Auftrag keine Erwerbszeit raubt. Ich bin sehr gespannt und freue mich richtig darauf.

Anschließend kam noch einmal der Mann, dem ich gerne einen Kredit für seinen Hausbau geben möchte. Es stellte sich heraus, dass er irgendwie vermeiden wollte, einen Maurer aus der Gruppe zu nehmen. Doch als ich die Wichtigkeit erklärte, schien das dann auch kein Problem zu sein. Ich bin insgesamt mehr als zufrieden und freue mich nun trotzdem auf das Wochenende, da es in dieser Woche irgendwie von Tag zu Tag mehr wurde. Heute Nacht wachte ich auf und hatte ganz wirr über Werkzeuge und Leute geträumt.

Also meine aktuellen Vorhaben: Nächste Woche werde ich mit drei weiteren Werkzeugen, nämlich Schippe, Spaten und Säge anfangen (vorzugsweise mit den Leuten, die ganz regelmäßig gezahlt haben, also so gut wie allen!!)).
Außerdem werde ich mit Küchengegenständen anfangen, eventuell in Einzelfällen eben auch Bett oder Kleidung beschaffen. Mal sehen...
Für Maurerwerkzeug warte ich immer noch darauf, dass die Maurer mir eine Liste mit benötigten Dingen geben.

Vielleicht kann ich schon am Wochenende in der Hauptstadt Faden für die Stoffe kaufen, damit sie nächste Woche mit Weben beginnen können. Ich habe mindestens zwei Weber, die momentan arbeitslos sind. Salvador meinte, dass ihm die Arbeit Spass mache, wenn er wüsste, dass es dafür einen angemessenen Lohn gäbe (natürlich nach guatemaltekischen Verhältnissen). Ansonsten sei die Arbeit einfach nur anstrengend und lästig.

2.12.05

Bestandsaufnahme und erste Schritte

Von der Schlammlawine vom 5. Oktober ist vor allem der Ortsteil Panabaj der Gemeinde Santiago Atitlan betroffen, doch auch in Tzanchaj, dem Nachbarstadtteil oder Dorf haben über fünfzig Familien ihre Häuser verloren. In Panabaj hat sich mittlerweile eine rechtlich anerkannte "Associacion" gebildet, wohingegen die betroffenen Familien in Tzanchaj immer noch abwartend auf Hilfe warten.


Nach der Katastrophe fanden sich in Santiago Atitlan zahlreiche nationale und internationale Hilfsorganisationen ein. So wurde die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten in den allerersten Wochen stabilisiert. Allerdings war es sehr schwierig, etwas über die Aktivitäten der einzelnen Organisationen herauszufinden, da es keine zentrale Koordination gab. Selbst meine Nachfrage beim Bürgermeister förderte nichts über eine mittel- und längerfristige Planung zu Tage. Mir fiel auf, dass die Motivation und Eigeninitiative mit der Deckung der akuten Not deutlich nachließ. Es machte sich eine abwartende zähe Passivität breit. Die kreisenden Hubschrauber mobilisierten viele Menschen zu Wettläufen um Lebensmittel und andere Geschenke. Andere erlitten in derselben Situation grosse Ängste aufgrund der traumatisierenden Erfahrungen während des Bürgerkrieges.


Nach vielen Gesprächen mit einzelnen Familien riefen wir am 5. November eine Versammlung der betroffenen Familien zusammen. Dort haben sich als Ziele herauskristallisiert, den Familien zu helfen, sich zu organisieren und einen legalen Status zu erhalten, ihnen Werkzeuge bzw. Materialien zu geben,damit sie durch Arbeit zunächst an den Alltag vor der Katastrophe anknüpfen können. Dann besteht ein Bedarf an Informationsvermittlung, denn viele Informationen über andere Hilfsprogramme gelangen gar nicht zu den Familien an, für die sie eingerichtet sind.

19.11.05

Mein Leben in Tzanchaj

Durch die Schule kannten mich sehr schnell die meisten Kinder in Tzanchaj und über die Kinder dann auch die Eltern. So hörte ich eigentlich immer irgendwo meinen Namen, wenn ich durch die Strassen lief. Häufig konnte ich überhaupt nicht erkennen, wo die Stimmen herkamen. Die Kinder spielen auf der Strasse, in den Kaffeeplantagen und in den Bäumen und freuten sich jedes Mal, wenn ich kurz mitspielte oder mit ihnen redete.

Im Grossen und Ganzen fühlte ich mich mit der Zeit wirklich wohl und willkommen, auch wenn ich manche Unterschiede weiterhin als belastend empfand. Die Familien haben durchschnittlich mehr als sechs Kinder und normalerweise schläft die ganze Familie in einem Bett. So hatten die Kinder überhaupt keine Hemmungen, mein Bett zu besetzen, mit jeglicher Art von Essen zu bekrümeln,... Manchmal hätte ich mir die nichtvorhandene Tür gewünscht . Doch wahrscheinlich wäre es für die anderen ziemlich unbegreiflich gewesen, wenn ich sie geschlossen hätte. Alles, was die Kinder nicht kannten, wurde genau betrachtet, auseinandergenommen oder umfunktioniert. Meine Sachen konnte ich nie offen liegen lassen. Wenn ich etwas dazu sagte, bekam ich die Antwort nur auf Tsutujil.

Ein paar Kinder haben versucht, mir diese Sprache, zu der es überhaupt keine einheitliche Verschriftlichung gibt, näher zu bringen und sprachen mir geduldig einzelne Worte immer wieder vor. Doch die Aussprache ist so ungewohnt und ohne Schriftbild vor Augen ist es mir fast unmöglich, die unterschiedlichen Laute zu merken.

Mein Leben in der Gastfamilie und Schule

Nur sehr selten aß ich gemeinsam mit der Familie. Irgendwann erklärten sie mir, dass sie sich sehr schämen, gemeinsam an einem grossen Topf auf dem Boden zu sitzen und mit den Fingern zu essen. So bekam ich mein Essen häufig getrennt, und sie gaben sich stets viel Mühe damit.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie sie mir zum ersten Mal Fisch gaben, ein sehr köstlicher Fisch aus dem Atitlan-See. Für mich war es das erste Mal, dass ich einen ganzen Fisch aß, -ich bin vegetarisch aufgewachsen. Die Kinder der Familie mit zahlreichen Freunden und Kousins saßen um mich herum und schauten mir gebannt zu. Ich fing an zu essen und gab ihnen nach einer Weile die Kugelschreiber, die ich dabei hatte und etwas Papier, um ihre Aufmerksamkeit etwas zu zerstreuen. Ich war mit dem Essen fertig oder meint das zumindestens, als die fünfjaehrige Tochter sich voller Genuss den zurückgelassenen Fischkopf nahm und in den Mund steckte.

Am Montagmorgen nahm mich Nino mit in die Schule, zunächst zum Direktor. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen oder was von mir erwartet würde. Gerne hätte ich mir erst einmal ein bisschen von der Schule oder dem Unterricht angeschaut. Doch ich wurde gleich zu einer Klasse gebracht, in der an dem Tag kein Lehrer war und sollte dort die Zeit bis zur Schulpause verbringen. So stand ich vor dem fünften Schuljahr, über 35 Kinder zwischen elf und sechzehn Jahren schauten mich erwartungsvoll an. Ich versuchte, ein bisschen Englisch beizubringen, was für beide Seiten wahrscheinlich sehr verwirrend war. Mein Spanisch war noch lückenhaft, und die Kinder unterhielten sich untereinander auf Tsutujil.

Es hat mich sehr lange gekostet, bis ich verstanden habe, dass die Schule einen ganz anderen Stellenwert hat als zum Beispiel in Deutschland. Im wesentlichen geht es nicht um Leistung oder Effektivität. Für viele Kinder ist es eine große Erleichterung, wenn sie einen halben Tag nicht arbeiten müssen. Wahrscheinlich ist es für sie nicht leicht zu erkennen, wofür man lernt, wo doch die Mütter fast durchweg überhaupt kein Spanisch sprechen, geschweige denn lesen oder schreiben können.

Einzelne Kinder entwickelten trotzdem eine zunehmende Begeisterung und mit der Zeit fingen auch Mädchen an, laut vor der Klasse zu sprechen. Die Schule hat ungefähr 350 Schüler. Die Schulleitung hätte am liebsten gesehen, wenn ich sämtliche Klassenstufen unterrichtet hätte. Dies lehnte ich jedoch ab und beschränkte mich auf Kinder ab ungefähr neun Jahren, die schon über gewisse Spanischkenntnisse verfügen, - auch wenn gerade die ganz Kleinen nach anfänglicher Scheu über meine Anwesenheit am allerbegeistertsten waren.

Wie ich nach Tzanchaj, Santiago Atitlan kam


Ende Mai machte ich mich von Quetzaltenango aus auf den Weg nach Santiago Atitlan auf der Suche nach einer Freiwilligenarbeit. Zufällig traf ich in einem Hotel auf Nino Tecun, der mir vorschlug, in der Schule von Tzanchaj als Englischlehrerin zu arbeiten. Als ich nach Unterkunftsmöglichkeiten fragte, bot er mir - zunächst noch etwas zögerlich - an, bei ihm und seiner Familie zu wohnen. Er war sich nicht zuletzt durch seine Arbeit im Hotel der Unterschiede in der Lebensweise bewusst und war verschämt, obwohl er selbst in Tzanchaj eines der größeren und stabileren Häuser gebaut hatte. Er machte sich Sorgen, wie ich mir "mein" Essen zubereiten könnte. Außerden gab es zu dem Zimmer, das er mir zur Verfuegung stellen wollte, keine Tür.

Am darauf folgenden Sonntag traf ich mich noch einmal mit ihm im Hotel, um dann mitsamt meinem Wanderrucksack auf einem der Pickups nach Tzanchaj zu fahren. Die anderen Leute, die dichtgedrängt mit uns auf der Ladefläche standen, schauten sehr erstaunt, als sie mich erblickten. Ich fühlte mich sehr fremd. Nach knapp drei Monaten in Guatemala war ich froh gewesen, mich im Spanischen einigermaßen zurecht zu finden. Doch nun war ich von der Maya-Sprache Tsutujil umgeben und verstand bis auf wenige spanische Wörter, die stets in die Sprache mit eingeflochten werden, überhaupt nichts mehr.

Zum Anhalten des Pickups pfiff Nino laut. Wir gingen einen sehr schmalen Pfad zwischen Hütten und kleinen Grundstücken hindurch zu Ninos Haus. Dort traf ich den Rest der fünfköpfigen Familie. Seine Frau Ana lächelte ganz vorsichtig aus der Ferne, schien aber sehr schüchtern oder fast verängstigt zu sein. Ein paar Sätze übersetzte Nino, da Ana überhaupt kein Spanisch spricht oder versteht. So verschwand sie dann ziemlich schnell in der Küche mit der jüngsten Tochter in einem bunten Tuch auf dem Rücken. Die Küche besteht aus einer kleinen Hütte aus Maisrohr und steht direkt neben dem größeren Haus aus Stein.

Die fünfjährige Tochter Ana Juanita saß vor dem Haus auf dem Boden und spielte mit der Erde. Sie lächelte mich an und schien - im Gegensatz zu den anderen - meine Gegenwart eher interessant als beängstigend zu finden. Nino musste zurück zur Arbeit und ließ mich im Haus zurück. Ich fühlte mich fremd und war mir unsicher, ob es überhaupt richtig war, so sehr in das Leben der Familie einzudringen. Es stand nicht nur die Sprachbarriere zwischen uns, sondern da war auch Angst vor der direkten Begegnung. Zum Glück waren einige der Kinder sehr offen und interessiert.