Wiederaufbau Atitlan

Am 5. Oktober 2005 verwüstete Hurrikan Stan ganze Landstriche in Guatemala. Am See Atitlan wurden verheerende Schlammlawinen an den Hängen der Vulkane ausgelöst. In Tzanchaj, einem Stadtteil der Gemeinde Santiago Atitlan, verloren ungefähr sechzig Familien ihre Häuser. Nachdem ich zuvor als Sprachlehrerin in der Gemeinde gearbeitet hatte, möchte ich nun versuchen, Hilfe und Wiederaufbau mitzuorganisieren. Dies stelle ich in diesem Tagebuch dar.

21.12.05

Weihnachten 2005. Zusammenfassung - Zwischenbericht

Seit der ersten Versammlung der betroffenen Familien am 5.11. sind nun eineinhalb Monate vergangen.

Mittlerweile haben sich hier vor Ort drei Hauptziele herauskristallisiert:
1. die Gründung einer in Guatemala rechtlich anerkannten Associacion.
2. die Wiedererlangung einer Arbeit, möglichst zu gerechten Konditionen
3. stückweise Wiedererlangung verlorener Gegenstände.


Es erscheint sehr wichtig, dass die Menschen eine Organisationsform finden, denn bisher (und das war auch schon mein Eindruck vor der Katastrophe) kämpfte jede Familie allein um ihr tägliches Leben. Es herrscht wenig Kommunikation oder gar Kooperation. Durch die Bildung von Kleingruppen mit jeweils fünf Familien lassen sich erfreuliche Veränderungen erkennen. Jede Gruppe hat ihren Stellvertreter und es ist zu spüren, dass die Kommunikation zunimmt und Verantwortung übernommen wird.

Heute Nachmittag wird eine Versammlung stattfinden, in der ich die ersten Schritte zur Associacionsgruendung in die Wege leiten möchte. Dabei werden wir von FEDEPMA (Federacion de pueblos Maya) unterstützt. FEDEPMA ist ein lokaler Dachverband aus momentan sechs Associacionen. Sie werden in den nächsten Jahren Unterstützung aus Europa erhalten, die vor allem in Fortbildungen investiert werden soll.

Um die Männer dabei zu unterstützen, zu ihrer Feldarbeit zurückzukehren, habe ich am 5.12. die ersten Werkzeuge (Hacke, Axt und Machete) ausgegeben. Ich habe Verträge mit ihnen abgeschlossen, dass sie die Hälfte des Kaufpreises in wöchentlichen Raten von mindestens fünf Quetzales (ca 60 Cent) zurückzahlen müssen. Der Gesamtpreis aller drei Werkzeuge beträgt 113 Quetzales, wobei ich einen Rabatt für die Abnahme größerer Mengen bekommen habe. Nicht alle hatten die Notwendigkeit aller drei Werkzeuge. Insgesamt habe ich an 31 Familien Werkzeuge ausgegeben.

Ich hatte mit Schwierigkeiten bei der Rückzahlung gerechnet, doch bisher wurde stets bezahlt. Manche bezahlten sogar weit über die Vereinbarungen hinaus, und so haben mittlerweile schon vier Familien die Rückzahlung abgeschlossen.
Ich möchte diese gute Zusammenarbeit ermutigen und besonders ihnen den Erwerb weiterer Werkzeuge ermöglichen. So gibt es mindestens drei Maurer, die gerade jetzt in einer Zeit, wo relativ viele Haeuser aufgebaut werden, dringend Werkzeug benötigen.

Mit einer Gruppe von 13 Frauen habe ich ein Perlenprojekt angefangen. Letzten Freitag gab ich ihnen Perlen und forderte sie auf, mir die fertigen Arbeiten vorbei zu bringen. Gestern kamen sie alle und brachten Armbänder, Ketten und Ohrringe, die normalerweise in Santiago zu extrem niedrigen Preisen an die Händler verkauft werden. Ich bezahlte sie für die Arbeiten und habe die Idee, längerfristig eine Möglichkeit zu finden, Arbeiten von hier nach Deutschland zu schicken, um für die Arbeit einen gerechten Preis zahlen zu können.

Die Menschen wollen arbeiten, sagen jedoch, dass es sehr entmutigend ist, wenn man kaum über die Materialkosten hinaus entlohnt wird.
Ganz ungeduldig wurde ich gefragt, wann es mehr Perlen geben würde.
Neben den Perlenarbeiten gibt es einige Männer und Frauen, die an Webstühlen arbeiten. Auch mit ihnen habe ich gesprochen und würde ihnen gerne weitere Arbeitsangebote geben, da sie auf mich einen recht deprimierten Eindruck machen. Es fehlt momentan an Arbeitsaufrägen.

Im Gespräch mit den einzelnen Familien versuche ich immer wieder herauszufinden, was die momentan drängendsten Bedürfnisse sind. Vielen fehlt es an Küchengegenständen, Betten, traditioneller Kleidung für die Frauen,...
Da ich sehr positive Erfahrungen mit der Rückzahlung der Hälfte gemacht habe, möchte ich auch hier auf diese Art und Weise weiter machen.

Einer Familie habe ich am Montag erste Materialien für den Hausbau gekauft. Der Mann kam auf mich zu und schilderte seine Situation. Ein Grundstück hatte er schon - wohl vor der Katastrophe - und auch viele Materialien. Er hatte sich offensichtlich sehr bemüht und auch bei anderen Organisationen versucht, Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten zu bekommen. Vor einer Woche besuchte ich sein altes Haus, das mitten auf der Schneise der Schlammlawine keine Zukunft hat. Ich beauftragte ihn dann, einen Maurer aus der Gruppe der betroffenen Familien aus Tzanchaj zu finden. Gestern ging ich an der Baustelle vorbei. Es sind nun schon Löcher für das Fundament ausgehoben. Der Vater und sein Sohn helfen als Gehilfen bei der Konstruktion.

Ich bin sehr glücklich und dankbar für die grosszügige Unterstützung, die ich aus Deutschland zu spüren bekomme. Die Reaktionen der Menschen hier in Tzanchaj zeigen Dankbarkeit und Motivation. Ich hoffe, bald auch ein paar Fotoeindrücke schicken zu können. Ich möchte die Arbeit so transparent wie möglich machen und freue mich stets über Fragen oder Anregungen.

In diesem Sinne wünsche ich allen eine schöne verbleibende Vorweihnachtszeit!!




15.12.05

Mein Tag im Projekt am 15.12.


Ich kaufte kleine Plastiktütchen, ging in ein Geschäft, benutzte dort die Waage, um die Perlen in kleine Tütchen abzufüllen. Das dauerte ziemlich lange, doch zum Glück half Kristin, eine andere Deutsche, mit. So kam ich irgendwie gar nicht mehr zum Mittagessen, sammelte die Hacken ein, packte sie in meinen Wanderrucksack und machte mich auf den Weg nach Tzanchaj. Es war eine furchtbare Pickupfahrt. Das Auto war schon ziemlich voll. Da ich es eilig hatte und schon zu spät zu meiner Verabredung mit einer der Frauen kommen würde, stellte ich mich hinten auf die dichtgedrängt gefüllte Stossstange. Mit über zwanzig Kilo Material im Rucksack wird man in jeder kleinsten Kurve völlig zur Seite weggezogen.

Da Straßenbau und Asphaltarbeiten im Gang sind, muss man in Panabaj etwas oberhalb der Straße mitten durch die Schneise der Schlammlawine fahren. Das sieht immer noch aus wie eine Steinwüste. Irgendwo war der Weg sehr eng, und es kam uns ein Müllauto aus Koblenz mit der deutschen Aufschrift "Hilfe für Atitlan" entgegen. Aufgrund herabhängender Äste eines Baumes konnte es nicht passieren. So kletterte einer der Männer mit seiner Machete auf den Baum und hackte mehrere laternenpfahldicke Äste ab. (Ich hätte zu gerne ein Foto gemacht). Immerhin nutzte ich diese notgedrungene Pause dazu, den Rucksack in das Innere der Ladefläche zu bugsieren. Irgendwann erreichten wir endlich die Schule im Zentrum von Tzanchaj.

Ich ging zunächst mit Dolores in einen der Klassenräume. Wir sprachen darüber, was es für Möglichkeiten gäbe, ein Portemonnaie herzustellen. Mal sehen, sicherlich können wir etwas Nettes entwerfen, das man dann in Deutschland gebrauchen und verkaufen kann. Ausserdem will ich Faden für die Webarbeiten kaufen, da es hier wohl nur schlechtere Qualität gibt, der nicht farbecht ist und bei der Wäsche ausläuft.

Nach dieser Besprechung waren schon einige Leute da, um Werkzeug entgegen zu nehmen. Die Frauen waren wegen der Perlen schon eine halbe Stunde zu früh gekommen. So etwas ist mir hier wirklich noch nie passiert. Ich gab Werkzeug aus und nahm die beiden Zahlungen entgegen. Es haben mich jetzt wirklich alle gemäß den Vereinbarungen bzw. teilweise sogar weit darüber hinaus bezahlt!!

Den Frauen erklärte ich dann, dass ich ein paar Perlen hätte. Ich wünschte nun, dass sie mir daraus möglichst viele verschiedene Artikel anfertigten. Es war deutlich zu merken, dass ihnen diese Anweisung zunächst gar nicht so recht war. Lieber hätten sie gehört, dass ich von einem bestimmten Design 100 StüAck haben wollte. Ich bin nun sehr gespannt, was geschieht. Insgesamt habe ich fünf halbe Kilo verschiedener Farben gekauft und habe jeder Frau drei kleine Tütchen gegeben. Ob sie wohl untereinander austauschen werden? Ein Experiment....
Ich habe ihnen erzählt, dass ich sie am Dienstag dann ein bisschen bezahlen werde, damit ihnen dieser Auftrag keine Erwerbszeit raubt. Ich bin sehr gespannt und freue mich richtig darauf.

Anschließend kam noch einmal der Mann, dem ich gerne einen Kredit für seinen Hausbau geben möchte. Es stellte sich heraus, dass er irgendwie vermeiden wollte, einen Maurer aus der Gruppe zu nehmen. Doch als ich die Wichtigkeit erklärte, schien das dann auch kein Problem zu sein. Ich bin insgesamt mehr als zufrieden und freue mich nun trotzdem auf das Wochenende, da es in dieser Woche irgendwie von Tag zu Tag mehr wurde. Heute Nacht wachte ich auf und hatte ganz wirr über Werkzeuge und Leute geträumt.

Also meine aktuellen Vorhaben: Nächste Woche werde ich mit drei weiteren Werkzeugen, nämlich Schippe, Spaten und Säge anfangen (vorzugsweise mit den Leuten, die ganz regelmäßig gezahlt haben, also so gut wie allen!!)).
Außerdem werde ich mit Küchengegenständen anfangen, eventuell in Einzelfällen eben auch Bett oder Kleidung beschaffen. Mal sehen...
Für Maurerwerkzeug warte ich immer noch darauf, dass die Maurer mir eine Liste mit benötigten Dingen geben.

Vielleicht kann ich schon am Wochenende in der Hauptstadt Faden für die Stoffe kaufen, damit sie nächste Woche mit Weben beginnen können. Ich habe mindestens zwei Weber, die momentan arbeitslos sind. Salvador meinte, dass ihm die Arbeit Spass mache, wenn er wüsste, dass es dafür einen angemessenen Lohn gäbe (natürlich nach guatemaltekischen Verhältnissen). Ansonsten sei die Arbeit einfach nur anstrengend und lästig.

2.12.05

Bestandsaufnahme und erste Schritte

Von der Schlammlawine vom 5. Oktober ist vor allem der Ortsteil Panabaj der Gemeinde Santiago Atitlan betroffen, doch auch in Tzanchaj, dem Nachbarstadtteil oder Dorf haben über fünfzig Familien ihre Häuser verloren. In Panabaj hat sich mittlerweile eine rechtlich anerkannte "Associacion" gebildet, wohingegen die betroffenen Familien in Tzanchaj immer noch abwartend auf Hilfe warten.


Nach der Katastrophe fanden sich in Santiago Atitlan zahlreiche nationale und internationale Hilfsorganisationen ein. So wurde die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten in den allerersten Wochen stabilisiert. Allerdings war es sehr schwierig, etwas über die Aktivitäten der einzelnen Organisationen herauszufinden, da es keine zentrale Koordination gab. Selbst meine Nachfrage beim Bürgermeister förderte nichts über eine mittel- und längerfristige Planung zu Tage. Mir fiel auf, dass die Motivation und Eigeninitiative mit der Deckung der akuten Not deutlich nachließ. Es machte sich eine abwartende zähe Passivität breit. Die kreisenden Hubschrauber mobilisierten viele Menschen zu Wettläufen um Lebensmittel und andere Geschenke. Andere erlitten in derselben Situation grosse Ängste aufgrund der traumatisierenden Erfahrungen während des Bürgerkrieges.


Nach vielen Gesprächen mit einzelnen Familien riefen wir am 5. November eine Versammlung der betroffenen Familien zusammen. Dort haben sich als Ziele herauskristallisiert, den Familien zu helfen, sich zu organisieren und einen legalen Status zu erhalten, ihnen Werkzeuge bzw. Materialien zu geben,damit sie durch Arbeit zunächst an den Alltag vor der Katastrophe anknüpfen können. Dann besteht ein Bedarf an Informationsvermittlung, denn viele Informationen über andere Hilfsprogramme gelangen gar nicht zu den Familien an, für die sie eingerichtet sind.